Der Morbi-RSA: Fluch oder Segen für eine gerechte Finanzverteilung zwischen den Kassen?

In der gesetzlichen Krankenversicherung verursachen 20 % der Versicherten 80 % der Leistungsausgaben.

Diese Zahlen verdeutlichen die Notwendigkeit eines Risikostrukturausgleiches – über dessen Ausgestaltung wird allerdings kontrovers diskutiert. Beim BMC-WissensUpdate zum Morbi-RSA, das am 5. Juli 2016 in den Räumlichkeiten des Langenbeck-Virchow-Hauses stattfand, wurde diese Thematik aufgegriffen und mit Experten diskutiert. Zu den rund 90 Teilnehmern zählten unter anderem Vertreter aus Wissenschaft, Politik und zahlreicher Krankenkassen.

Seit dem Jahr 2009 bestimmt der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) über die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen. Mit der sich zuspitzenden finanziellen Lage vieler Kassen ist in den vergangenen Monaten eine intensive Debatte um die Ausgestaltung des Morbi-RSA entbrannt.

Zunächst ging Dr. Dirk Göpffarth, Referatsleiter in der Staatskanzlei NRW und zuvor langjähriger Leiter des Referats Risikostrukturausgleich im Bundesversicherungsamt, auf Funktionsweise und Ziel des Risikostrukturausgleiches ein. Die Beschränkung des Morbi-RSA auf nur 50 bis 80 Krankheiten sollte allein eine Übergangslösung darstellen. Für die Zeit nach der Übergangsphase war der Einbezug von weit mehr Erkrankungen geplant. Bislang hat sich jedoch in dieser Hinsicht nichts geändert. Dr. Göpffarth zufolge könnte der Morbi-RSA besser funktionieren, aber in seiner derzeitigen Ausgestaltung gleicht er einem „Porsche, der so stark heruntergetunt wurde, dass er nur noch wie ein Käfer fährt“. Weiterhin forderte Dr. Göpffarth, den Morbi-RSA nicht als statisches Gerüst anzusehen, sondern ihn systematisch weiterzuentwickeln. Der Wissenschaftliche Beirat des BVA sei vorwiegend mit der Beurteilung und Beratung bei laufenden Anpassungen beauftragt. Es bedarf jedoch auch einer Institution, die sich mit der langfristigen Weiterentwicklung befasse. Zudem sei die Einführung ambulanter Kodierrichtlinien zwingend nötig, um die Validität der Daten, die zur Kalkulation der Zuweisungen im Morbi-RSA herangezogen werden, zu verbessern.

Mit der Krankheitsauswahl im Morbi-RSA beschäftigte sich ebenfalls das von Dr. Dennis Häckl, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Direktor des Wissenschaftlichen Instituts für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung (WIG2), vorgestellte Gutachten „Anreize für Prävention im Morbi-RSA“. Ein zentrales Ergebnis des für den IKK e. V. erstellten Gutachtens war, dass sich die Finanzierung von Präventionsleistungen für Krankenkassen derzeit betriebswirtschaftlich nicht lohne: Zwar stiegen die Leistungsausgaben von Versicherten mit Präventionsleistungen im Zeitverlauf weniger an als die von Versicherten ohne derartige Leistungen. Betrachtet man jedoch die Differenz aus RSA-Zuweisungen und Leistungsausgaben, entwickelten diese sich in den vergangenen Jahren für Versicherte mit Präventionsleistungen schlechter. Weiterhin betonte Dr. Häckl die Notwendigkeit, die Prävalenzgewichtung in der Krankheitsauswahl zu korrigieren, um auch seltenere aber teure Krankheiten im Morbi-RSA zu berücksichtigen.

Das von Prof. Dr. Volker Ulrich, Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bayreuth, vorgestellte Gutachten für das Bayrische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege verdeutlichte die Notwendigkeit einer regionalen Komponente im Morbi-RSA. Professor Ulrich zufolge gibt es zahlreiche, regional variierende Faktoren, die sich sowohl auf die Nachfrage nach als auch auf das Angebot von Gesundheitsleistungen auswirken, die aber nicht von den Krankenkassen beeinflusst werden können. Obwohl daraus Unterschiede in den Deckungsbeiträgen einzelner Regionen resultieren, finden diese Faktoren bislang keine Berücksichtigung in der Kalkulation der RSA-Zuweisungen. Insbesondere Krankenkassen mit vielen Versicherten in Ballungszentren, wie München oder Berlin, erleiden daraus finanzielle Nachteile. Alternativ zum Einschluss einer regionalen Komponente in den Morbi-RSA sei ein regionaler Zusatzbeitrag denkbar. Da sich in den Ballungszentren jedoch auch Patienten aus dem Umland behandeln lassen, könnte die Einführung regionaler Zusatzbeiträge zu ungerechten Finanzierungsstrukturen führen.

Auch aus Sicht des BKK Dachverbands, der durch seinen Vorstand Franz Knieps vertreten wurde, ist der Morbi-RSA in seiner derzeitigen Form verbesserungswürdig. Neben der Erweiterung des Morbi-RSA um eine Regionalkomponente plädierte Knieps dafür, das Vorliegen einer Erwerbsminderungsrente nicht länger bei der Kalkulation der RSA-Zuweisungen zu berücksichtigen. Hierbei handele es sich um „ein Relikt aus alten Zeiten“, das mit der Berücksichtigung direkter Morbiditätsindikatoren für chronische, kostenintensive und schwerwiegende Erkrankungen überflüssig wurde. Weiterhin betonte er, dass exogene Faktoren – also Faktoren, die ein Kassenmanagement nicht beeinflussen kann – nicht dafür ausschlaggebend sein dürfen, wie es um die finanzielle Situation einer Kasse bestellt ist.

Im Zentrum der anschließenden Diskussion stand die Frage nach der Weiterentwicklung des Morbi-RSA. Prof. Dr. Klaus Jacobs, Geschäftsführer des WIdOs, warnte, dass der Morbi-RSA oft nicht für die bestehenden Probleme verantwortlich gemacht werden könne. Weitgehender Konsens herrschte jedoch zwischen den Diskussionsteilnehmern darin, dass regionale Unterschiede zukünftig im Morbi-RSA berücksichtigt werden sollten. Dr. Göpffarth mahnte allerdings, dass die Einbeziehung regionaler Faktoren „nur einen homöopathischen Effekt“ haben wird. Problematisch erweist sich zudem die Verfügbarkeit valider Daten, auf deren Basis Änderungen vorgenommen werden können. In diesem Zusammenhang wünschte sich der Moderator Prof. Dr. Florian Buchner, Professor für Gesundheitsökonomie an der Fachhochschule Kärnten, ein bisschen mehr „Mut zum Experimentieren“ und eine weitergehende Debatte, was der RSA leisten soll und kann. Professor Jacobs betonte die Wichtigkeit, den Morbi-RSA nicht zu überfrachten, sondern mehr Wettbewerb an anderer Stelle zu ermöglichen.

Fazit dieses informativen Nachmittags war, dass die Diskussion um den Morbi-RSA wohl auch nach der Sommerpause nicht abreißen wird und die Frage nach der adäquaten Methodik noch lange nicht beantwortet ist.