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Wie sieht Versorgungsforschung 2.0 aus?

Interview mit Prof. Dr. Holger Pfaff (IMVR)

Warum braucht die Versorgungsforschung ein Update?

Die Versorgungsforschung hat es in den letzten 20 Jahren in besonderer Weise geschafft, Fragestellungen aus Politik und Praxis durch gute methodische Forschung zu klären. Immer häufiger stoßen wir aber an den Punkt, dass wir mit guter Methodik allein nicht die Wirkung komplexer Versorgungsvorgänge und -interventionen verstehen und erfassen können.

Woran liegt das?

Die Wirkzusammenhänge, die in randomisierten, kontrollierten Studien getestet werden, sind relativ einfacher Natur – wie etwa: „Die Innovation A führt zum Outcome B“. In der Versorgung ist die Sachlage oft schwieriger, weil wir es fast immer mit komplexen Interventionen in zudem komplexen und wenig konstanten Umwelten zu tun haben. Um das alles verstehen und dann gut intervenieren zu können, brauchen wir in der Versorgungsforschung mehr theoretisches Wissen über diese Zusammenhänge.

Was bedeutet das im Hinblick auf die Evaluation von Innovationsfondsprojekten?

Wir finden erfolgreiche Projekte neben weniger erfolgreichen und müssen nun herausfinden, aus welchen Gründen die einen erfolgreich waren und die anderen nicht. Die Frage ist auch: Was kann die Versorgungsforschung daraus insgesamt lernen? Welche Gestaltungsprinzipien scheinen generell wirksam zu sein und in welchen Versorgungskontexten ist eine besonders starke Wirkung einer Versorgungsinnovation zu beobachten.

Wie sieht Versorgungsforschung 2.0 aus?

Die Versorgungsforschung muss wissenschaftlicher werden. Das bedeutet für mich, dass wir Theorien zur Erklärung der Wirkzusammenhänge bilden müssen, bevor wir „bloße“ Ideen in der Praxis testen. Deutschland besitzt eine starke Theorietradition zum Beispiel im Bereich der Soziologie oder Psychologie, auf die wir zurückgreifen können.

Mehr zum Thema Versorgungsforschung 2.0 gibt es auf dem Fachkongress „Theorie wagen“ vom Monitor Versorgungsforschung – in Kooperation mit dem BMC. 

7. Dezember | Berlin

Gesundheitspolitische Impulse des BMC zur Bundestagswahl 2021

Qualitativ herausragende und patientenorientierte Versorgung ist nicht vorrangig eine Frage des Geldes, sondern vor allem der Koordination und Kooperation. Wie eine Verbesserung hier erzielt werden kann und was die Politik dafür in der kommenden Legislaturperiode tun sollte, formuliert der BMC in 5 Zielen.weiterlesen

Befragung zum BMC-Innovationspanel 2021

Im letzten Jahr hat der BMC mit der ersten Auflage des BMC-Innovationspanel den lang gehegten Wunsch nach einer eigenen Datenreihe im BMC erfolgreich angestoßen. Nun geht es in die zweite Runde!weiterlesen

Mehr Vernetzung, mehr Patientenorientierung, mehr Effizienz – BMC-Kongress 2021 mit Rekordzahlen und ambitionierten Zielen

Sollte es an der Covid-19-Pandemie etwas Positives geben, gehört das wachsende Interesse an der Gesundheitsversorgung definitiv dazu. 855  Teilnehmer/innen in über 40 Sessions zeugten beim erstmals rein digital durchgeführten 11. BMC-Kongress im Januar nicht nur vom großen Gesprächsbedarf auch unter den Expert/innen. Sie führten den alljährlichen, mit spannenden und zum Teil kontroversen Diskussionen vollgepackten Veranstaltungshöhepunkt auch auf Rekordkurs. Statt Bestwerten nach dem olympischen Motto „höher, schneller, weiter“ wurden eher die Stichworte „koordinierter, zielgenauer, effizienter“ zum wiederkehrenden Leitgedanken der beiden Kongresstage.

Welche Lehren sind aus der Pandemie zu ziehen?

Bereits zur Eröffnung betonte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, wie bedeutend eine funktionierende Koordination und Vernetzung für eine wirksame Versorgung sei. Bei der Pandemiebekämpfung betreffe dies z. B. Labor- und Intensivkapazitäten aber auch Gesundheitsdaten. So gesehen bedauerte er, dass die elektronische Patientenakte (ePA) erst zum Jahresbeginn gestartet sei, wäre sie doch bereits im letzten Jahr sehr hilfreich gewesen. Spahn warnte zugleich, die aktuell hohen Ausgaben für Digitalisierung und Pandemiebekämpfung allein als Kostenfaktor wahrzunehmen. Vielmehr seien diese als Investitionen in eine bessere Versorgung zu begreifen, die sich langfristig auszahlten.

Der BMC-Vorstandsvorsitzende Prof. Volker Amelung spannte in seiner Begrüßung einen weiteren Bogen, welche Lehren aus der Pandemie zu ziehen seien. Es habe sich gezeigt, dass Versorgung nur im Zusammenspiel von Berufsgruppen, Technologien und Systemen funktioniere. Ein Krankenhausbett ohne qualifizierte Pflegekraft sei wirkungslos. Entsprechend müsse künftig die Arbeitszufriedenheit bei den Gesundheitsberufen achtsamer verfolgt werden, um die Personalausstattung sicherzustellen. Weiterhin sei deutlich geworden, dass Gesundheit mit anderen gesellschaftspolitischen Zielen wie dem Zugang zu Bildung oder wirtschaftlicher Entwicklung im Wettbewerb stehe. Zwischen diesen gelte es abzuwägen, was Gesundheitspolitik allein nicht bewältigen könne. Nicht zuletzt brachte Amelung seine Hoffnung zum Ausdruck, jene in der Krise erfolgten Anpassungen der Versorgung, die sich als positiv herausgestellt hätten, dauerhaft zu erhalten. Digitale Versorgungslösungen und Videosprechstunden seien dafür Beispiele. Mit Blick auf die sich abzeichnende Diskussion zur Dämpfung der pandemiebedingten Kosten empfahl er stattdessen eine Effizienzinitiative. Diese müsse neben Potenzialen durch die Digitalisierung auch auf mehr Patientenorientierung abzielen, um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu minimieren.

Patientenorientierung führt zu besseren Versorgungsergebnissen

Überhaupt wurde die Forderung nach mehr Patientenorientierung in allen Keynote-Vorträgen erhoben. Prof. Ellen Nolte von der London School of Hygiene and Tropical Medicine stellte vor allem Verbesserungsbedarf bei chronischen Erkrankungen fest. Aktuell fehle eine systematische Messung von Patientenbedarfen und -erfahrungen, an der die Versorgung neu ausgerichtet werden müsse. Grundsätzlich müssten Patienten als Experten ihrer eigenen Gesundheit begriffen und in Behandlungsstrategien einbezogen werden. Auch müssten die Anstrengungen für Health Literacy nicht nur auf die Wissensvermittlung an einzelne Personen, sondern an die Öffentlichkeit insgesamt ausgerichtet sein. Durch Beteiligung aller Gesundheitsberufe habe Großbritannien diese Public Health-Aufgabe professionalisiert und gute Erfolge verzeichnet. Die deutsche Versorgung habe zwar schnell auf die Pandemie reagiert, erreiche die europäischen Gesundheitsziele jedoch nur mittelmäßig, weshalb hier ein Austausch von Best Practices sinnvoll sei.

Klaus Bürg, Managing Director von Amazon Web Services, und Katharina Jünger, Gründerin und CEO von Teleclinic, ergänzten dies aus der Perspektive der digitalen Wirtschaft. So biete sich durch die Digitalisierung die Chance, die Versorgung im Sinne der Patienten enger zu vernetzen und Anwendungen schneller zum Nutzer zu bringen. Bürg erläuterte, Innovation müsse von den Patientenbedürfnissen ausgehen und „rückwärts“ zum Produkt entwickelt werden, um am Ende die Nutzer zu erreichen. Dabei seien Scheitern und Erfinden Zwillinge im Innovationsprozess, die es nicht nur in Forschungsabteilungen zu akzeptieren gelte. Jeder Beteiligte in der Versorgung müsse dies verinnerlichen und daran mitwirken. Jünger bemängelte, dass dafür aktuell noch die nötigen Strukturen fehlten. Patientenwünsche würden nicht ausreichend berücksichtigt, weil die Politik eine nachfragegetriebene Versorgung scheue. Dies werde am Beispiel der Videosprechstunde deutlich, die sich in der Pandemie großer Beliebtheit erfreue, aber durch die begrenzte Abrechnungsfähigkeit pro Quartal und den Pflichtanteil von Präsenzsprechstunden für Ärzte unnötig eingeschränkt werde. Wer es mit der Digitalisierung ernst meine, müsse diese radikaler vorantreiben und den Wettbewerb zwischen Anbietern fördern.

Ein Appell für mehr Kooperation zum Abschluss

Am Ende des Kongresses wurde es dann noch einmal grundsätzlich. Prof. Henry Mintzberg, Managementlegende an der kanadischen McGill University, präsentierte klare Gedanken zum Umbau der Gesundheitsversorgung, der statt detaillierter Maßnahmenpläne eine grundlegende Strategie erfordere. Aktuell gebe es einen dysfunktionalen Wettbewerb, der zu viel um Budgets und Betten ausgefochten werde und zu wenig um gute Ideen. Hierfür brauche es mehr Zusammenarbeit zwischen allen Versorgungsebenen. Tatsache sei aber, dass die verschiedenen Beteiligten aus Therapie, Pflege, Management und Verwaltung bislang nicht ausreichend miteinander kommunizierten und stattdessen allein nach Lösungen suchten. Ein gemeinsames Verständnis und vor allem gemeinsame Verantwortung für die erbrachte Versorgung sei dringend geboten. Dies sei umso wichtiger, als der Trend zur Spezialisierung in der Medizin fortschreite. Das Denken in Erkrankungskategorien habe zwar die Medizin erheblich verbessert und faszinierende Therapien hervorgebracht. Neue oder komplexe Erkrankungsbilder, Multimorbidität und informierte Patienten, die an der Therapieentscheidung beteiligt werden wollen, zeigten jedoch, dass diese Methode nicht immer Erfolg verspreche. Teamarbeit und die gemeinsame Suche nach Lösungen müsse daher an Bedeutung gewinnen.